Tourdenken #1: Stress vor dem Grand Départ – und wie man ihn steuert
Die Tage vor dem Start der Tour de France gelten als ruhig – sind in Wahrheit aber oft die nervenaufreibendsten überhaupt. Während Mechaniker schrauben und das Management motivieren will, ist es Aufgabe des DS, das Stressniveau der Fahrer im optimalen Bereich zu halten. Warum Struktur, Zielsetzung und etwas Zurückhaltung entscheidend sind – ein Blick hinter die Kulissen eines Tour de France Starts.
Jeder ist nervös. Mechaniker, Masseure – am wenigsten vielleicht noch die Fahrer selbst… Denn sie haben immerhin etwas Auslauf: letzte Streckenbesichtigungen, Vorbelastung, ein bisschen Bewegung.
Verschärft wird die Situation meistens durch das Management, das es sich nicht nehmen lässt, in voller Mannstärke aufzukreuzen – um allen nochmal persönlich alles Gute zu wünschen. Was leider oft genau das Gegenteil bewirkt…
Wenn ich ein Grand-Tour-Team leite, ist mir als Mentalcoach vor allem eines wichtig: den Stresslevel der Athleten so gut wie möglich zu steuern. Ziel ist es, das Arousal-Niveau im optimalen Bereich zu halten – nicht zu niedrig, nicht zu hoch. Diese Idee ist nicht neu: Schon Yerkes & Dodson (1908) zeigten, dass Leistung bei mittlerer Erregung am höchsten ist, während zu viel oder zu wenig Aktivierung die Leistung mindert.
In der Praxis erreiche ich das mit klaren Strukturen und locker aber ganau durchgetakteten Tagen:
Anreise Mittwochabend, Ankunft im Hotel idealerweise zwischen 17:00 und 20:00 Uhr. Erster loser Programmpunkt dann Donnerstags: Frühstück im Küchentruck, individuell zwischen 08:30 und 10:00 Uhr. Danach Streckenbesichtigung, Lunch um 13:30 Uhr, Massage – und am Abend die Teampräsentation.
Den Freitag halte ich so frei wie möglich. Fixpunkte sind lediglich der Medical Check – so früh wie möglich – und das Taktikbriefing vor dem Dinner. Dazwischen: Rennvorbereitung am Rad, danach Massage – und eventuell ein paar individuelle Gespräche. Diese Gespräche führe ich nur bei Bedarf – mit dem klaren Ziel, Athleten zu unterstützen, bei denen ich ein Zuviel oder Zuwenig an Spannung wahrnehme. Die individuelle optimale Aktivierungszone (IZOF) nach Hanin (1994) dient mir hier als Orientierung: Leistung entsteht dort, wo Spannung und Emotion im persönlichen Idealbereich liegen – nicht zu hoch, nicht zu niedrig.
Habe ich einen Superstar im Line-up, gehe ich medientechnisch in die Flucht nach vorne. Pressekonferenz im "quartier général" – und sonst: Funkstille.
Ebenso wichtig wie die Organisation der letzten Tage ist für mich das Wording bei der Zielsetzung. Zu hochgesteckte Ziele erzeugen Überforderungsgefühle, zu niedrige führen zum gegenteiligen Effekt. Nur wenn Herausforderung und Fähigkeiten in einem guten Verhältnis stehen, ist Flow möglich – wie es Mihály Csíkszentmihályi in seinem Flow-Modell beschrieben hat.
Wenn – wie zuletzt beim Giro – das Ziel bleischwer auf die Schultern drückt, weiche ich sogar auf Prozessziele aus. Ich fokussiere mehr auf das Wie als auf das Was. Einem Primož Roglič zu sagen, dass er gewinnen soll, scheint mir – gelinde gesagt – überflüssig. Fast noch wichtiger ist mir das Formulieren von Prozesszielen in meinen Ansprachen an das Betreuerteam. Zuletzt habe ich es so formuliert: Ob wir das Rennen gewinnen, liegt nicht in unserer Hand... Unser einziges Ziel als Staff muss es sein, den Fahrern bis zum letzten Tag mit so viel Energie wie möglich zur Seite zu stehen.
Aber: So sorgfältig man auch plant – die Tage vor der Tour de France sind furchtbar.
Und erst wenn Christian Prudhomme sein "Trois, deux, un... c’est parti!" ins Mikrofon schreit, fällt die Spannung ab.
Meist aber nur für ein paar Minuten…
Prinzipien für Hochspannungssituationen im echten Leben
Bewegung hilft gegen Nervosität
Fahrer profitieren von Vorbelastung und Streckenbesichtigungen – das reduziert innere Unruhe. Ein Prinzip das für Jedermann gilt!Arousal im mittleren Bereich halten
Weder Über- noch Untererregung sind optimal – es geht um die richtige Spannung.Klare, aber lockere Tagesstruktur
Ein durchgeplanter, aber nicht überladener Ablauf gibt Sicherheit und mentale Stabilität.Zielsetzung anpassen: realistisch & flow-orientiert
Nur wenn Herausforderung und Können im Gleichgewicht sind, kann Flow entstehen. Ein Grundsatz den ambitionierte Chefs oft vergessen....Wenn nur der Sieg zählt, auf Prozessziele ausweichen
Nicht das Was, sondern das Wie in den Fokus rücken – besonders bei Höchstleistern.
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