Tourdenken #3: Soziales Faulenzen – die unsichtbare Bremse in Teams
Ruhetag. Fast die Hälfte der Tour ist geschafft. Gut! Weniger gut: Fast die Hälfte der Chancen auf einen Etappensieg ist passé. Gerade für Teams, bei denens bislang nicht nach Plan läuft, bedeutet dieser erste “jour de repos” für die Sportliche Leitung vor allem eins: Schwerstarbeit. Jetzt gilts die Moral hochzuhalten. Um alles aus der Mannschaft herauszuholen, setze ich neben Einzelgesprächen gezielt auf ein feines Nachjustieren in Sachen Aufgaben und Rollen.
Radsport wird gern als Musterbeispiel für Teamwork und Selbstlosigkeit dargestellt. Doch das entspricht nicht immer der Realität. Besagte Eigenschaften entstehen nicht von selbst, sondern sind das Ergebnis kompetenter Führung. Denn eigentlich bietet ein Radteam alle Voraussetzungen für ein Phänomen, das in der Psychologie als soziales Faulenzen bezeichnet wird: Wenn die individuelle Leistung nicht genau beurteilt werden kann und sich Teammitglieder auf die Gruppe verlassen, reduzieren sie ihr Commitment. Unbewusst!
Wenn Einzelleistung „unmessbar” ist
Soziales Faulenzen beschreibt die Tendenz, in Gruppen weniger Einsatz zu zeigen, wenn die individuelle Leistung nicht bewertet werden kann. Dieser Effekt, der erstmals von Bibb Latané und Kollegen (1979) beschrieben worden ist, ist kein bewusster Akt. Vielmehr handelt es sich um einen automatischen Prozess. Menschen strengen sich weniger an, wenn sie wissen, dass ihre persönliche Leistung innerhalb der Gruppe unbemerkt bleibt.
Typische Muster in komplexen Teams
Darum hat das soziale Faulenzen im Radsport besondere Relevanz. Als Teamsportart, bei der der Einsatz einzelner Athleten nicht genau messbar ist, sind wir besonders gefährdet. Ein anschauliches Beispiel: Bei leichten oder mittelschweren Etappen in Grand Tours sind Individualleistungen oft kaum zu bewerten. Selbst TV-Übertragungen geben oft wenig Aufschluß. Und auch anhand der Wattwerte ist schwer erkennbar, ob ein Athlet wirklich alles gegeben hat…. Zu wissen, dass die individuelle Anstrengung nicht entscheidend ins Gewicht fällt, kann die Motivation zusätzlich mindern.
Als Sportlicher Leiter versuche ich bei jedem einzelnen Rennfahrer zu verhindern, dass sich das Gefühl einschleicht, andere könnten den eigenen Mangel an Engagement ausgleichen, selbst wenn dies unbewusst geschieht. Bei einer Fahrzeit von gut 80 Stunden, nach denen Sieger und Verlierer nach drei Wochen oftmals nur durch ein paar Sekunden getrennt sind (es sei denn, Pogi ist am Start), kann genau dieses „Abducken“ den entscheidenden Unterschied machen.
Was gute Führung jetzt leisten muss
Mein wichtigster Ansatzpunkt ist es, auch bei vermeintlich unwichtigen Etappen jedem Fahrer eine sehr genaue Aufgabe zu geben, idealerweise eine, bei der er das Gefühl hat, auch für seine persönlichen Interessen zu kämpfen. Sich selbst zu verwirklichen. Ein weiterer für mich bedeutender Aspekt ist, den jeweiligen Leader zu ermuntern, immer ehrliches Feedback zu geben. Ungefiltert. Im Debriefing. Vor versammelter Truppe. Natürlichen Leadern fällt das leicht. Davon gibt es aber wenige. Viel häufiger ist es meine Aufgabe als Sportlicher Leiter, die nötigen Informationen zu sammeln und meinem „Anführer” zu zeigen, wie er am wirkungsvollsten Feedback geben kann.
Ein psychologisches Phänomen, das dieses „soziale Faulenzen" verhindern kann, ist der Köhler-Effekt. Der tritt auf, wenn die Mitglieder einer Gruppe die Leistungsunterschiede als gering wahrnehmen. In solchen Fällen steigt die Motivation, weil sich niemand traut, die Gruppe „im Stich zu lassen“. Im Radsport lässt sich dieser Effekt gezielt nutzen, indem man besonders homogene Mannschaften aufstellt. Ich bin überzeugt, dass zum Beispiel ein Team wie Visma in seinen besten Jahren genau von dieser Dynamik profitiert hat.
Das zeigt: Gerade bei einer dreiwöchigen Rundfahrt wie der Tour de France können kleine Mentaltricks große Wirkung haben. Und was dort über Erfolg entscheidet, gilt auch jenseits des Sports: Gute Führung zeigt sich nicht in Kontrolle, sondern darin, Menschen so einzubinden. So dass sie sich gebraucht fühlen. Speziell wenn es nicht so rund läuft.
(vgl. Brand, R. (2010). Sportpsychologie: Grundlagen und Anwendung. VS Verlag, S. 97-99)
Prinzipien für Führung in Teams, in denen Einzelleistung verschwimmt
1. Wenn Leistung „unmessbar” ist
Soziales Faulenzen ist kein Zeichen mangelnder Motivation, sondern ein psychologischer Reflex. Wo persönliche Beiträge nicht auffallen, sinkt der Einsatz. Nicht absichtlich, sondern automatisch. Wer das erkennt, kann gezielt gegensteuern.
2. Unsichtbarer Rückzug in komplexen Teams
In offenen oder stark arbeitsteiligen Strukturen ziehen sich Einzelne leicht zurück. Ohne dass es bemerkt wird. Klare Rollenzuteilung und sichtbare Zuständigkeiten schaffen Verbindlichkeit. Und ermöglichen, dass individuelle Leistung nicht nur erbracht, sondern auch anerkannt wird. Und das motiviert!
3. Führung durch Klarheit, nicht durch Kontrolle
Dauerhafte Motivation braucht Orientierung, nicht Druck. Wer Aufgaben klar umreißt und Rückmeldungen strukturiert ermöglicht, führt auf Augenhöhe. Und verhindert, dass Engagement im Nebel verpufft.
4. Motivation braucht Relevanz
Nur wer spürt, dass der eigene Beitrag zählt, bleibt voll bei der Sache. Selbst scheinbar kleine Aufgaben verdienen Kontext und Bedeutung. Weil es genau dort beginnt: das Gefühl, gebraucht zu werden.
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