Tourdenken #4: Stunde der Wahrheit. Wie Organisation und Tempowahl über Sieg oder Scheitern entscheiden
Zeitfahren sind präzise durchchoreografierte Ausnahmesituationen. Kleine Fehler haben große Wirkung – besonders, wenn Druck, Tempo und Erwartung zusammenkommen. Warum Organisation, Selbststeuerung und das Wissen um die eigene Schwelle nicht nur über Rennverläufe entscheiden, sondern auch jenseits des Sports den Unterschied machen.
Zeitfahren. Für viele Zuschauer ein eher langweiliger Tag in der Tour. Für uns: der Stressigste. Nach wochenlanger Vorbereitung beginnt der Tag der Wahrheit für das Betreuerteam in aller Herrgottsfrüh. Truck und Bus werden auf den Teamparkplatz gekarrt. Ein Kampf um die besten Plätze beginnt. Hauptsache kein direkter Sonneneinfall beim Aufwärmen. Der komplette Fuhrpark wird ausgerichtet. Kein Durchgang, kein Lärm, kein Sichtkontakt.
Kein Raum für Hektik
Hochspannung bei allen Beteiligten. Gerade beim Contre la montre kommt es immer wieder vor, dass ein Athlet völlig versagt. Aus psychologischer Sicht ist das nachvollziehbar: Wenn die innere Spannung ein kritisches Maß überschreitet, kann es zum Leistungskollaps kommen. So wie Hardy und Fazey es 1987 in ihrem Katastrophenmodell beschrieben haben – plötzlicher Leistungseinbruch bei zu hoher Aktivierung. Um genau das zu vermeiden, setze ich auf minutiöse Planung. Ich schaffe stabile, möglichst reizarme Rahmenbedingungen. Der Ablauf wird geübt.
Spätestens 09:30: Wecken. Frühstück. Ab 11:00 Streckenbesichtigung.
Danach isoliere ich meine Leader in einem Hotelzimmer nahe dem Start.
Keine Interviews. Kein Platz für Betriebsamkeit.
T – 90 Minuten: Erneute Ankunft am Bus.
T – 60 Minuten: ein paar Bissen “Pre-Race-Snack”
T – 45 Minuten: Rad auf die Rolle
T – 40 Minuten: Funk-Check
T – 35 Minuten: Warm-up-Beginn.
T – 10 Minuten: Warm-up-Ende.
T – 07 Minuten: ab zum Start
Auch das Umfeld der Athleten wird kontrolliert. Alle Aufgaben sind verschriftlicht. Jeder Betreuer erhält einen exakten Zeitplan und eine detaillierte Taskliste. Wer keine rennrelevante Funktion hat, verlässt die Zone. Sogar der CEO!
Die Tempowahl beginnt im Kopf
3, 2, 1, los. Gerade nervöse Fahrer neigen dazu, zu schnell zu starten. Um das zu verhindern, werden exakte Pacing-Strategien berechnet. Aufs Watt genau wissen Fahrer und Sportliche Leitung, was wann zu treten ist. Nur nicht überziehen! Vor allem nicht, wenn’s ums Klassement geht… Wie ein Co-Pilot im Rallyesport begleite ich die Fahrer durch den Parcours. Jede Kurve, jede Temposchwelle, jede Steigung wird angesagt.
Es ist wie im echten Leben: Wenn man nah am Limit fährt, fühlt sich alles gut an. Noch! Ein paar Herzschläge mehr und es wird zur Würgerei. Wer über den optimalen Bereich hinausgeht, erlebt keinen linearen Leistungsverlust. Die Anstrengungswahrnehmung steigt sprunghaft. Und plötzlich ist das, was eben noch gut ging, nur noch Überleben. Obwohl man kaum schneller vorankommt! Der Mann mit dem Hammer ist da…
Wer seine „Schwelle" kennt – und sich traut, minimal vom Gas zu gehen –, behält auch im Alltag die Kontrolle. Gerade dann, wenn es drauf ankommt.
Prinzipien für Steuerung unter Belastung
1. Exakter Zeitplan bei Aufgaben unter Hochdruck
Wer unter Druck funktionieren muss, braucht mehr als bloß gute Vorbereitung – er braucht eine klare Abfolge, die sitzt. Je weniger spontan entschieden werden muss, desto mehr bleibt der Kopf frei für das Wesentliche. Deshalb: planen, üben, durchführen – nicht nur für die Athleten, sondern für das ganze Team. Struktur ersetzt keine Leistung, aber sie schützt sie.
2. Klare Aufgaben unter Hochspannung
Jeder muss wissen, was er zu tun hat – und was die anderen tun. Transparente Rollen schaffen Sicherheit, wenn keine Zeit für Diskussion bleibt.
Kompetenz heißt nicht, alles zu wissen – sondern die eigene Aufgabe zu kennen und zu wissen, wer für den Rest der Spezialist ist.
3. Nicht über das Limit gehen, wenn Ausdauer gefragt ist
Wer über den optimalen Bereich hinausgeht, erlebt keinen linearen Leistungsverlust. Die Anstrengung kippt. Plötzlich ist das, was eben noch gut ging, nur noch Durchhalten. Obwohl man kaum mehr leistet. Das gilt nicht nur für Tour-Zeitfahren, sondern auch für Hobbysportler und Teams, die über Monate ambitionierte Ziele verfolgen. Wer zu früh zu viel will, zahlt später mit Motivation, Gesundheit oder Substanz.
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