Wir verwenden Cookies um die Benutzerfreundlichkeit der Website zu erhöhen. Mehr Informationen dazu finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Datenschutzerklärung akzeptieren?

JaNein
Skip to main content

Tourdenken #2: Sprintetappen, mentale Überlastung – und warum weniger oft mehr ist

Der Tourstart zählt zu den anspruchsvollsten Phasen eines dreiwöchigen Rennens – nicht nur körperlich, sondern vor allem kognitiv. Begrenzte Aufmerksamkeitsressourcen, hohe Reizdichte und die Gefahr kognitiver Überlastung stellen Rennfahrer und Sportliche Leiter (DS) gleichermaßen vor Herausforderungen. Warum weniger Kommunikation oft mehr ist, wie sich Informationsverarbeitung in Stresssituationen verhält, und weshalb strukturierte De-Briefings in den ersten Etappen entscheidend sind – eine Analyse aus mentaler und praktischer Perspektive.

Mentale Belastung zum Tourstart

Oft schon ein paar Minuten, nachdem Christian Prudhommes „C’est parti!“ die geschundenen Nerven der Radsportjünger ein letztes Mal für drei lange Wochen beruhigt hat, geht’s richtig zur Sache. Bodenschwellen, Verkehrsinseln, Kreisverkehre – und das zwischen zigtausenden grölenden Fans. Zudem gibt es noch keine Hackordnung im Peloton – jeder will vorne fahren. Eine Maximalbelastung für die Aufmerksamkeit.

Die Psychologie spricht in diesem Zusammenhang von begrenzten Aufmerksamkeitsressourcen. Schon in den klassischen Modellen von Broadbent oder später Kahneman wird beschrieben, dass das Gehirn immer nur eine bestimmte Menge an Reizen verarbeiten kann – alles andere wird weggefiltert oder übersehen. In einem hektischen Tourstart bedeutet das: Wer alles wahrnehmen soll, nimmt im Zweifel genau das Falsche wahr.

 

Informationsverarbeitung unter Druck

Instinktiv reagiert man als Sportlicher Leiter auf diesen Stress genau falsch. Man versucht, die Rennfahrer vor allen Gefahren zu warnen. Schon in der Taktikbesprechung. Mit der Erfahrung von an die tausend solcher Briefings kann ich sagen: Die Aufmerksamkeit der Profis vor dem Start beträgt knappe zehn Minuten. Alles, was über fünfzehn Minuten hinausgeht, führt zu vollständiger Amnesie – spätestens beim Einschreiben ist die Hälfte vergessen. 

Auch das lässt sich psychologisch erklären: Die sogenannte Cognitive Load Theory beschreibt, dass es nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die Menge und die Struktur von Information ankommt. Wird das Arbeitsgedächtnis – wie Baddeley es nennt – überladen, kippt die kognitive Last ins Unproduktive. Die Folge: wichtige Infos gehen verloren, irrelevante bleiben hängen. Ich versuche mich deshalb auf drei bis maximal fünf Hotspots festzulegen – und frage diese am Ende des Briefings sogar gezielt ab.

Mit dem Funk ist es ähnlich. Der Lärmpegel im Feld ist immens: quietschende Bremsen, grölende Fans, warnende Trillerpfeifen – und dazwischen noch der letzte Gossip aus dem Fahrermarkt. Früher habe ich versucht, die Athleten vor allen Unwegsamkeiten zu warnen. Zu zeigen, wie gut ich die Strecke kenne. Mittlerweile habe ich mir angewöhnt, so wenig wie möglich zu sprechen. Nur die nötigsten Infos – im Telegrammstil. Und klare Kommandos.

Der Grund: Im Kopf der Fahrer herrscht längst ein “Wettstreit der Reize” eine „Competition of Cues“. Das beschreibt den psychologischen Mechanismus, dass mehrere Hinweisreize gleichzeitig um die begrenzte Aufmerksamkeit konkurrieren. Funk, Körpergefühl, Geräusche, optische Eindrücke – alles will verarbeitet werden. Und wenn dann noch der DS mit Zusatzinfos reinquakt, kann genau das Entscheidende untergehen. Nicht umsonst sieht man immer wieder Profis die gerade in den kritischsten Rennsituationen den Ohrhörer aus dem Trikot baumeln lassen. 

 

Führungsaufgaben in dynamischen Teams

Mehr Leadership Skills als sportpsychologische Expertise sind bei der Aufgabenverteilung nötig. Gerade bei der Tour de France. Gerade am Anfang.
Aufgrund der Dominanz von Pogacar und Vingegaard bekommen nur ganz wenige Klassementfahrer den Luxus eines 100-Prozent-Support-Teams. Oft müssen selbst Superstars wie Roglič oder Evenepoel ihre Leaderrolle mit einem Sprinter teilen.

In der Praxis bedeutet das, dass man als Sportlicher Leiter mit einem Team arbeitet, das in dieser Konstellation noch nie gemeinsam gefahren ist. Das man erst synchronisieren muss.
Zu genaue Pläne sind in diesem Fall – gerade für die dynamische Situation einer Tour-de-France-Sprintetappe – kontraproduktiv und enden meist im Desaster. Und das sieht dann so aus: Dragracing bis zur 5‑km-Marke. Plötzlich übernimmt das Team irgendeines Außenseiters die Kontrolle – von vorne. Alles läuft wie am Schnürchen… bis bei der 1000‑m-Marke der letzte Anfahrer wegschwenkt und der Lead-out-Mann im Wind steht. Chaos!
Und nun: Wie aus dem Nichts kommt ein routinierter Anfahrer mit seinem Sprinter im Tandem, pilotiert ihn durch das Chaos, liefert ihn exakt bei der 200‑m-Marke ab – und jubelt. (Hoffentlich nur innerlich, denn das Hochreißen der Arme von Anfahrern ist seit heuer per Strafe verboten.) Alles ohne genauen Plan. Rein intuitiv.

 

Strukturierte De-Briefings als Schlüssel

Für mich ist das wichtigste Tool in den ersten Tagen das De-Briefing. Ich mache es bewusst lauwarm, nicht heiß: Erst duschen, Recovery-Meal – und dann etwa 20 Minuten vor Ankunft im Hotel die Nachbesprechung. Ziel der Prozedur: Spannungen abbauen, bevor sie entstehen – und einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess anstoßen. Denn schon bald geht es nicht mehr um Sekunden – sondern um alles…

 

Prinzipien für Klarheit unter kognitivem Druck

1. Begrenzte Aufmerksamkeit gezielt nutzen:

Das menschliche Arbeitsgedächtnis ist stark begrenzt – es kann in der Regel nur fünf bis neun Informationseinheiten gleichzeitig aufnehmen und kurzfristig speichern (Miller, 1956). Ob beim Tourstart, im Sprintfinale oder in einer beruflichen Ausnahmesituation: In Phasen hoher Reizdichte gilt es, Informationen so zu strukturieren, dass sie diese Kapazitätsgrenze nicht überschreiten. Kommunikation muss daher reduziert, klar gegliedert und auf das Wesentliche beschränkt sein – sonst geht das Entscheidende im Übermaß unter.

 

2. Weniger ist mehr – besonders wenn’s „brennt“:

In hochdynamischen Situationen – ob im Rennen, in Verhandlungen oder in hektischen Meetings – konkurrieren ständig Reize, Eindrücke und Informationen. Wer dann spricht, sollte nicht zusätzlich überfrachten. Zu viele Hinweise stören den Fokus, blockieren Eigenverantwortung und verhindern klares Handeln. Mut zur Lücke ist Stärke, nicht Schwäche. Bewusst gesetzte Pausen und Reduktion schaffen Raum für Intuition, Entscheidungskraft und situatives Denken – genau dann, wenn es darauf ankommt.

 

3. De-Briefings bewusst gestalten – mit Abstand:

Ob nach der Etappe oder dem Arbeitstag: Direkt nach dem Geschehen ist selten der richtige Moment für Analyse. Erst durchatmen, dann reflektieren – ruhig, lösungsorientiert, strukturiert. Für mich ist das der wirkungsvollste Teambuildingprozess überhaupt: Spannungen abbauen, Missverständnisse klären, gemeinsam lernen – Tag für Tag, ohne große Emotionen.

 

4. Synchronisation geht vor Perfektion:

Gerade bei neu formierten Teams zählt zunächst das Zusammenspiel. Führung bedeutet, Orientierung zu geben – nicht alles zu kontrollieren. Flexibilität schlägt starre Pläne – auf der Straße wie im Büro.

 

Disclaimer

Alle Rechte an den auf dieser Webseite veröffentlichten Fotos und Texten liegen, sofern nicht anders angegeben, beim Betreiber dieser Webseite. Die Verwendung, Vervielfältigung oder Weiterverbreitung der Inhalte, einschließlich Textausschnitten, Fotos oder Zitaten, ist ausschließlich mit der ausdrücklichen Genehmigung des Autors oder der Betreiber gestattet. Jede unautorisierte Nutzung, insbesondere in kommerziellen Kontexten, ist untersagt. Dies umfasst, ist aber nicht beschränkt auf:

  • Social-Media-Kanäle (z. B. Facebook, Instagram, Twitter, LinkedIn).
  • Fernseh- und Rundfunkübertragungen.
  • Printmedien.
  • Digitale Publikationen auf Blogs, Online-Magazinen und Webseiten.

Jede unautorisierte Nutzung oder Weitergabe an Dritte wird rechtlich verfolgt. Für Anfragen zur Nutzung der Inhalte dieser Webseite in einem der genannten oder ähnlichen Medien nehmen Sie bitte vorab Kontakt mit uns auf.

Alle auf dieser Webseite geäußerten Meinungen sind die persönlichen Ansichten von Christian Pömer und stehen in keinerlei Zusammenhang mit Red Bull - BORA - hansgrohe oder anderen Organisationen, mit denen er in Verbindung stehen könnte.